Im Osten

Ich war auf einiges eingestellt - auf das aber nicht: ostdeutsche Provinz, außerhalb von Dresden und Leipzig. Nie bisher selbst erlebt, das, immer nur schlaue Reportagen gelesen und geschaut bei den üblichen Verdächtigen. Es ist dramatischer als ich mir das vorgestellt habe. Zwischen Leipzig und Chemnitz kilometerlange Öde, es gibt hier einfach nichts, nichts, nichts. Dazu eine völlig platte Landschaft und eine irgendwie beklemmende Athmosphäre, nichts zu spüren vom barocken, weißblauen Süden und seiner überschäumenden Lebensfreude. Aber klar, wo soll sie auch herkommen, diese Freude? Wenn man in diesem Landstrich lebt, kannst du nur zweierlei: resignieren - oder gehen. Wenn man es selber sieht, gewinnen die Dinge eine eigene Dimension: vom "brain drain" hatte ich schon viel gelesen, hielt das aber bisher immer für ein sehr theoretisches Konstrukt von Statistikern und Sozialwissenschaftlern. Seit heute weiß ich, wie brain drain aussieht.

Ich muss gerade, als diese dann doch nicht so blühenden Landschaften im Zugfenster an mir vorbeifliegen, an den armen italienischen Süden denken, der ist auch für ewige Zeiten vom reichen Norden abgekoppelt. Natürlich kann man sich (so wie ich über viele Jahre) auf den Standpunkt stellen, es sehe hier doch schon viel besser aus als damals zu DDR-Zeiten - und dass man halt ein wenig Geduld haben müsse, so schnell ginge es nun auch wieder nicht. Inzwischen aber, nach gerade mal einem halben Tag, kann ich nachvollziehen, wie die Dinge hier laufen, ohne dass ich sie rechtfertigen will. Aber ich kann inzwischen halbwegs kapieren, warum man hier dauerhaft über fehlende Perspektiven jammert, man den Verlockungen rechtsextremer Sprücheklopfer erliegt, warum die Alten keine wirkliche Identität mehr haben in ihrem zertrümmerten Arbeiter- und Bauernparadies und die jungen erst gar keine annehmen. Dabei dürfte ich Glück gehabt haben, wir sind hier in Sachsen, das, nach allem was man so liest, ziemlich prosperiert. In Mecklenburg-Vorpommer hätte ich mich vermutlich erhängt.

Zurück über Hof. Hier hatte ich damals meine erste echte Begegnung mit den Überresten der DDR, an jenem Wochenende im November, als ich als junger Journalist nach Berlin, um die Eidrücke des Mauerfalls wiederzugeben. In kilometerlangen Schlangen kamen sie mir bei Hof entgegen, die knatternden und stinkenden Plastilinbüchsen; nach dem ersten Parkplatz gings raus, Begrüßungsgeld abholen und die Wunderwelt Westen erkunden. Ich fuhr, als einer der Wenigen, in die andere Richtung, in ein unbekanntes Land. Damals wie heute zieht sich hier eine Zonengrenze durch, damals eine sichtbare, heute eine unsichtbare. Es ist immer noch eine völlig fremde Welt für mich drüben und während des ganzen Tages werde ich das Gefühl nict los, dass sie mich anstarren hier, dass sie genau merken, dass ich anders bin, aus dem Westen komme, hier nichts verloren habe.
Was werde ich glücklich sein, wenn ich heute abend wieder in Niederbayern bin; ich werde es sogar für seine barocken Papst-Festspiele lieben, für seinen blauen Himmel, für die Maisfelder, die jetzt langsam abgeerntet werden, für die wunderbaren Vierseithöfe, die stolz mitten in der Landschaft stehen und für seine Entschleunigung und Entdigitalisierung. Einfach fürs Daheimsein.
Herzogspitalstr. 14 - 14. Sep, 16:50